Bei Sophie

Vergangene Nacht habe ich etwa fünf Stunden geschlafen, bis im Hof jemand geschossen hat. Jedenfalls klang es wie Schüsse, können auch Silvester-Restbestände gewesen sein. Gestern wurde ich ebenfalls unsanft aus dem Bett gerissen.

Irgendwann nach 11:00 Uhr endlich eingepennt, klingelte um 14:30 Uhr schon wieder der Wecker, Sophie hatte einen Termin. Beim weiteren Dösen wurde ich durch das Klingeln des Telephons unterbrochen. "darki?", ertönte die Stimme von Sophies Mitbewohnerin durch die Tür, "Telephon für dich." Für mich?! Wer zum Teufel ... Es war Soul. Natürlich war es Soul, wer auch sonst. Er ist schließlich der einzige, der weiß wo ich bin und die Telephon-Nummer hat. Darauf muss man im Halbschlaf aber erstmal kommen. Mir war so als wären wir für den Abend verabredet, ich machte mir einen Kaffee und versuchte klar zu werden bis Sophie wiederkommt.

Abends waren wir dann tatsächlich bei Soul und smu. Auf dem Weg dorthin in der S-Bahn saß eine Frau, die aus dem Fenster starrte. S-Bahn fahren gehörte bereits einmal zum Leben dieser Frau, aber das war ein anderes Leben, irgendwie. Manchmal kommt es ihr so vor, als hätte sie mehrere Leben gelebt, jedes auf seine Art in sich abgeschlossen. Aber jetzt will sie nicht in die Vergangenheit driften, das führt zu nichts. Und schließlich freut sie sich ja auch auf den Menschen, zu dem sie gerade fährt. Dafür gleitet sie in andere gedankliche Untiefen, die sie aber erst als solche erkennt, als es bereits zu spät ist. Wie so oft. Ein Mann erzählt von Phantasie-Welten, wunderschöne Erzählungen, in denen alles in hellem Licht erstrahlt, Bilder von einer Art unschuldiger Schönheit, für deren Beschreibung es keine Worte gibt. Als sich diese Bilder in der Fensterscheibe der S-Bahn wiederspiegeln, fängt ein Mädchen an von ihren Phantasiewelten zu erzählen. Dort ist es zwar einsam und verlassen, aber ruhig. Die Fensterscheibe bekommt Risse und zerplatzt. In ein paar Tagen beginnt die Frau ein neues Leben.

Bei smu gefällt es mir, aber es geht ihm nicht gut. Als er seinen Mageninhalt der Kanalisation überlässt, ziehen Sophie und ich uns zurück. Wir wissen nichts mit unserer Zeit anzufangen, haben keine Lust nach Hause zu fahren, also machen wir uns auf den Weg zum Internet-Café am Bahnhof. In der U-Bahn trafen wir Maik und Mändy. Sie trug eine weiß-silber gemusterte Leggins, eine gelbe Jacke mir orangener Weste darüber und eine blaue Plüsch-Mütze aus den 70er Jahren, die unterm Kinn zusammengebunden war, auf ihren wasserstoffblonden Haaren. Er sah aus wie der letzte Anhänger der Baader-Meinhoff-Bande, als wäre er soeben einem der Fahndungs-Photos entsprungen, die seinerzeit in jeder Postfiliale aushingen. Nachdem sie ausgestiegen waren, setzten sich Humphrey Bogart und seine Begleiterin auf ihre Plätze.

Es ist saukalt, mindestens -40 Grad Celsius. Ich bezweifle, jemals irgendwo lebend anzukommen. Kurz vor Mitternacht kommen wir an einer Post vorbei, in der etwa ein Duzend Leute stehen, Pakete aufgeben wollen, Briefmarken kaufen, ganz normaler Schalter-Betrieb eben. Nachts um Zwölf? Ich befürchte zu halluzinieren, aber Sophie sieht diese Leute auch. Im Internet-Café ist es auch irgendwie langweilig. Daheim habe ich im Web immer irgendwas zu tun, aber hier? Hm. Sophie geht's ähnlich und so gehen wir bald wieder. Um 2:00 Uhr sind wir endlich in der warmen Wohnung, kochen uns Nudeln und Sophie liest meine HP auf schleppi, während ich wieder einmal schreibe.

Author

dark*

Immer gerne auf Tour, am liebsten im Norden

4. Januar 2001